Es ist ja (noch) gängige Meinung, dass quantenmechanische Erkenntnis in unserem Alltag keine Rolle spielen. Als Motorradfahrer möchte ich hier mein Veto einlegen. Und überhaupt. Das will ich kurz begründen.
Es gibt ja diesen wunderbaren Ausdruck von Berndt Spiegel „Die obere Hälfte des Motorrades“. Was gemeint ist, ist klar: Der Mensch auf dem Motorrad. Der „funktioniert“ nämlich nach ganz anderen Gesetzmäßigkeiten als das Motorrad. Das ist definitiv so. Und ich denke, das sind die Gesetzmäßigkeiten, die die Quantenmechanik beschreibt.
Ich brauche mir ja nur bewusst zu sein, dass mein Körper aus dem selben Material besteht wie alles andere auch, nämlich aus Atomen. Die funktionieren in einem Stück Eisen wie in einem Lebewesen nach den identischen Gesetzmäßigkeiten. Also auch in mir selbst.
Im Ch’an gibt es – wie in der Quantenmechanik – keine Unterscheidung zwischen lebendiger und unlebendiger Materie. Die Praxis des Ch’an betont die Einheit und Interdependenz aller Dinge und Wesen – wie auch die Quantenmechanik. Alles, was existiert, wird als Teil des Universums betrachtet und hat eine Verbindung zu allem anderen.
Im Ch’an – und der Quantenmechanik – wird betont, dass alles, was existiert, eine Form von Energie ist, die in ständiger Bewegung und Veränderung ist. Es gibt keine feste Trennung zwischen lebendiger und unlebendiger Materie, da alles miteinander verbunden ist und sich gegenseitig beeinflusst.
Die Praxis des Ch’an – und die Beschäftigung mit Quantenmechanik – zielt darauf ab, das Bewusstsein für diese Einheit und Interdependenz zu schärfen und uns zu helfen, uns mit allem um uns herum zu verbinden. Durch die Praxis der Meditation und Achtsamkeit können wir uns bewusst werden, wie alles miteinander verbunden ist und wie unsere Handlungen Auswirkungen auf die Welt um uns herum haben.
Dass die Quantentheorie zutrifft, wird wohl niemand mehr bestreiten wollen. Sie ist die erfolgreichste naturwissenschaftliche Theorie. In keinem einzigen Fall sind ihre Vorhersagen bisher mit den experimentellen Ergebnissen in Widerspruch geraten, und mit enormer Genauigkeit beschreibt sie Phänomene im Bereich der Elementarteilchen, Atome und Moleküle, aber auch im makroskopischen Bereich. Nur mit ihrer Interpretation hapert es noch.
Wobei ich gestehen muss, dass ich die gedankliche Spaltung von lebendiger und nicht lebendiger Materie gedanklich noch nicht ganz überwunden habe. Das dauert noch ein bisschen. Wahrscheinlich. Oder mir fehlt noch die passende gedankliche Ordnungsstruktur für Interdependenz.
Quantenmechanik beschreibt also nicht nur das Verhalten von Teilchen auf subatomarer Ebene, sondern auch die geistig mentalen Prozesse, die in mir ablaufen. Etwa wenn ich fahre, da ist es gut erfahrbar. Hingegen die klassische Physik bezieht sich allein auf das makroskopische Objekt Motorrad. Was mich also tun lässt, was ich tue, folgt den in der Quantenmechanik beschriebenen Gesetzmäßigkeiten.
Doch beschreiben Ch’an wie Quantenmechanik vorrangig nicht Gesetzmäßigkeiten, auch nicht Strukturen, sondern „Substanzen“, die aber nicht klar definiert, sondern offen sind – wie Ahnungen, die zu Gedanken werden oder auch Beziehungen, die ja alles andere als statisch sind sondern sich ständig verändern.
Als ich meine Frau kennenlernte, bekam ich erst einmal eine Menge Informationen über sie (und sie über mich), wie das eben ist, wenn man jemanden kennenlernt. Das waren erst eimal ganz klassische Fakten, Fakten, die auch die klassische Physik kennt. Dass wir anhand dieser Fakten dann eine Beziehung aufgebaut haben basiert darauf, dass wir ganz offensichtlich zu Quanteninformationen übergegangen sind.
Denn die beziehen nicht nur die äußeren, sondern auch die inneren Informationen mit ein und sie beschreiben die wahrscheinlichen zukünftigen Möglichkeiten in der Beziehung. Eine dieser Möglichkeiten, also eine Wahrscheinlichkeit, wurde dann zu einem Fakt, wir haben nämlich geheiratet. So wurde aus den Quanteninformationen wieder eine konkrete Information.
Nicht anders ist es beim Motorradfahren, nur ist es da viel einfacher zu betrachten, denn da spielt nur ein Mensch eine Rolle, nämlich ich. Ich sehe etwa die Kurve, die ich fahren will. Ich registriere eine Menge Informationen über Fakten: Geschwindigkeit, Belag, Form der Kurve, eigene Position beziehungsweise den aktuellen Fahrweg, Wetter, Verkehr und so weiter und so fort. Diese Informationen wurden in meinem Gehirn zu Quanteninformationen weiterverarbeitet, die Grundlage gedanklicher Kohärenz über mein Verhalten beziehungsweise den zu wählenden Fahrweg.
Die vorhandenen Informationen waren also die Grundlage für alle Optionen, wie ich theoretisch fahren konnte, von denen ich mir dann die für mich stimmigste ausgesucht habe. Die Geschwindigkeit, mit der ich Informationen neu generierte und als Quanteninformation über die möglichen Optionen weiterverarbeitet habe, um dann eine auswählen und mich entsprechend verhalten zu können, ist gigantisch schnell, so schnell, dass ich es als einen Fluß wahrnehme, einen Prozess.
Die einzelnen Entscheidungspunkte aber nehme ich kaum noch wahr, allenfalls, wenn plötzlich etwas Neues auftaucht, etwa ein entgegenkommendes Auto. Ich mache also nichts anderes als das was Quantenphysiker mit ihren mathematischen Gleichungen machen: Ich stelle Wahrscheinlichkeitsberechnungen an, um die Folgen meines Verhalten zu berechnen, um mich dann (hoffentlich) richtig zu entscheiden.
Mein Verhalten auf dem Motorrad lässt sich also deterministisch nicht vorhersagen. Wie auch mein Verhalten insgesamt sich nicht vorhersagen lässt, allenfalls in Wahrscheinlichkeiten. Wer aber kennt schon alle Fakten, die ich bei meinen Überlegungen berücksichtigen werde? Niemand! Auch ich selbst nicht, jedenfalls nicht bewusst. Deswegen ist es auch ratsam, anderen Menschen ohne Beurteilung und ohne Urteil zu begegnen.
Das Beispiel Motorradfahren macht deutlich, dass es für mein zukünftiges Verhalten eine andere Beschreibung als die klassische Physik braucht. Das ist nämlich nicht vorhersagbar, sondern hängt davon ab, über welche Informationen ich im Moment der Entschediung verfüge. Betrachte ich meinen Fahrweg in der Rückschau, dann kann ich das mit den Konzepten der klassischen Physik beschreiben. Doch damit kann ich nur feststellen, dass ich etwa den Lenker zu sehr festgehalten oder mit der falschen Bremse gebremst habe, nicht aber, weshalb ich das getan habe und auch nicht, was ich zukünftig tun werde.
Ich kann also nur feststellen, was ich in der Vergangenheit falsch gemacht habe und auch, was ich stattdessen tun sollte, aber nicht, was es mich dann auch tatsächlich machen lässt. Eingefahrene Muster können sehr beharrlich sein, denn sie lassen sich nicht kontrollieren, auch wenn das viele noch denken – natürlich nur bei anderen. Und selbst die Erkenntnis und Einsicht alleine genügt nicht, ich muss es auch wirklich verinnerlicht haben, um mich entsprechend zu verhalten.
Die Frage ist also: Wie bringe ich die Konzepte des Ch’an oder der Quantenmechanik in mein Leben? Denn das Motorradfahren ist ja nur deshalb ein sehr gutes Beispiel, weil ich hier die Folgen meiner inneren Wahrscheinlichkeitsberechnungen, vor allem auch der Blockaden, unmittelbar sichtbar werden, ich also direkt mit meiner Persönlichkeit konfrontiert werde. Mit anderen Worten: Wie ich bin, so fahre ich auch Motorrad. Keine Möglichkeit, mich zu verstellen.
Es geht also nicht darum, das Falsche zu erkennen, sondern das Richtige zu tun. Wie auf dem Motorrad.