Weg der Wirklichkeit

Schlagwort: Wirklichkeit

Sinn des Ganzen

Die (ideale) gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit ist fraglos eine Notwendigkeit, soll das Leben auf der Erde weiter existieren. Es geht also schlicht darum, was der Einzelne tun kann, um seinen Beitrag zum Erhalt des Lebens leisten zu können, um das Überleben aller zu gewährleisten und um Schutz vor dem Chaos zu bieten.

Die entscheidende Frage ist, wo wir die Grenze ziehen. Unbewusst wissen wir das, jedenfalls ist das meine Überzeugung, genauso wie jedes Tier und jedes Insekt oder jeder Vögel und nicht die Meeresbewohner zu vergessen, auch das Plankton instinktiv seine Aufgabe kennt und auch wahrnimmt.

Nur wir Menschen haben uns aus diesem Gefüge herausgenommen, regelrecht heraus-gedacht, haben uns von allem anderen nicht nur gedanklich getrennt, sondern auch noch darüber gestellt und uns zum Herrscher über die Welt erklärt. Was aber nicht funktioniert.

Im Ch’an und im Taoismus finden wir eine Lebensweise, die darauf aufbaut, dass wir im Grunde wissen, worum es geht, dieses Wissen nur verstellt ist durch unzutreffendes Denken. Stellen Sie sich vor, Ihnen ist eine Flasche Rotwein heruntergefallen. Was machen Sie jetzt? Schnell das Zimmer verlassen, die Tür zumachen und das Zimmer nicht wieder betreten?

Falls Sie das an manche religiöse und angeblich spirituellen Traditionen erinnert, dann verstehen Sie mich. Denn es geht allein darum die Rotweinpfütze wahrzunehmen und aufzuwischen, also das, was nicht sein sollte, ganz bewusst wahrzunehmen, denn sonst lässt es sich nicht beseitigen. In unserem Menschlichen Sündenfall ist es schlicht und einfach das Denken, das Strukturen folgt, die unserem menschlichen Egoismus, aber nicht dem Leben folgt.

Aber, wie schon gesagt, Moral und Werte helfen da nicht weiter, sondern nur Einsicht in das Wesen der Dinge. Es geht also darum, uns bewusst zu sein, dass

  • wir ein bestimmtes, uns weitgehend von anderen Menschen vorgegebenes Bild unserer selbst ‐ und nicht uns selbst leben;
  • wir Bilder der anderen Menschen sehen ‐ und nicht sie selbst; 
  • die vorgeprägten, von uns übernommenen Sinngebungen des Lebens uns vor den Abgründen der Sinnlosigkeit schützen, gleichzeitig aber auch verhindern, dass wir einen uns noch unbekannten Sinn entdecken können, der sich uns als lebendige Wirklichkeit selber offenbart.

Solange ich also die Wirklichkeit und mich selbst nicht als das erkenne, was wirklich ist, sondern aus gedanklichen Konstrukten besteht, dann gibt es innerhalb dieser als normal empfundenen Wirklichkeit nichts wirklich Lebendiges.

Dass das so ist, haben schon viele Menschen erkannt, die Schwierigkeit besteht wohl darin, dass wir nichts willentlich tun können, um das zu ändern, sondern es sich nur dann wirklich ändern wird, wenn wir uns in uns selbst versenken.

Und das bedeutet erst einmal, dass wir die Wirklichkeit nicht unzutreffend interpretieren. Was durchaus erlernbar ist, wie uns Ch’an und Taoismus in seiner ursprünglichen Form zeigen, was mittlerweile durch die Erkenntnisse der modernen Wissenschaften, insbesondere der Quantenmechanik wesentlich leichter geworden ist.

Warum diese Konstruktion?

Ganze einfach, weil es (eigentlich) Sinn macht. Jedes Tier lernt seinen Platz in der Welt durch das Vorbild der Eltern und die Erfahrungen, die es macht, auch durch die Gene wie die Epigenetik. Ein sehr komplexer Prozess, der da abläuft. Würden etwa Bienen nicht lernen, was sie zu tun haben, gäbe es keine Bienen mehr. Schlüpfen sie als Larven, „wissen“ sie nur, was sie selbst betrifft, mehr aber nicht.

Das bekommen sie von den „Alten“ vermittelt. Und das macht insgesamt auch Sinn, denn so wird die junge Biene in das Webnetz des Lebens integriert, so findet sie ihren Platz im Leben und nur so ist Leben überhaupt möglich. So ist es auch bei allen Tieren. Und bei uns Menschen ist es (eigentlich) nicht anders.

Es geht darum, dem einzelnen Individuum einen Platz in dem Lebensgefüge zu zeigen, den es einnehmen soll oder auch kann (da will ich mich nicht festlegen), damit das Ganze „funktioniert“. Irgendwie muss ja jedes Lebewesen erfahren, was es tun muss, um seine – theoretische – Aufgabe erfüllen zu können.

Was natürlich schwierig wird, wenn sich der Einzelne nur für sich selbst interessiert. Interessant finde ich in diesem Zusammenhang Begriffe wie Patriarch oder Patriarchin. Das Patriarchat hat erst einmal nur den Zweck, ein System von sozialen Beziehungen, maßgebenden Werten, Normen und Verhaltensmustern weiterzugeben und zu vermitteln, das für das aufrechterhalten des Lebens erforderlich ist.

Also – erst einmal – vollkommen wertneutral. Doch wer prägt die Regeln und wem dienen sie? Da kommt dann sehr schnell die egoistisch geprägte Schieflage hinein. Es ist immer die Frage, geht es um etwas Größeres oder geht es um Partikularinteressen? Was ist das „Größere“? Umfasst es wirklich alles? Und wie wird das vermittelt? Mit „natürlicher“ Autorität oder mit Befehlen?

Das Problem  ist, dass der Mensch im Laufe seiner Entwicklung das Gefühl oder die Empfindung (wenn man das damit korrekt bezeichnet) für das umfassend Ganze verloren hat. Nikolaus Geyrhalter hat das sehr treffend formuliert: „Wir sind keine sehr nette Spezies. Individuell kann man Menschen mögen, aber die Menschheit insgesamt: Schwierig.

 Die Menschheit hat – für mich ganz offensichtlich – das Bewusstsein für das Ganze verloren; jedoch werden wir es weder mit Moral noch mit Werten wiederfinden oder -erlangen, sondern alleine durch Einsicht. Philip Kapleau spricht mir mit diesem Gedanken aus der Seele „Während moralische und philosophische Begriffe wandelbar sind, ist wahre Ein-Sicht unvergänglich.“

Das ist auch meine innerste Überzeugung. Nicht schon immer, aber mittlerweile.

Schutz der eigenen Annahmen

Dabei ist bereits die reine Andersartigkeit schon ausreichend, um die Selbstverständlichkeiten der Anderen in Frage zu stellen, was dann schnell zur Ausgrenzung führt. Wichtig ist es, die in solchen Situationen gängigen „Abschirmungsstrategien“ zu kennen, von denen es im Prinzip drei gibt:

Marginalisierung

Wer einem anderen Lebensentwurf als die Mehrheit folgt, wird schnell an den Rand der Normalität gedrängt, was jedoch im Umkehrschluss nicht bedeutet, dass sie richtig liegen. Aber vielleicht ein Grund, ihnen zuzuhören und nicht rundweg abzulehnen.

Nihilierung

Im Extremfall kann die Marginalisierung bis zur Vernichtung der Andersartigen getrieben werden. Die mögliche Bandbreite reicht hier von der kognitiven Nihilierung („Verrückte“, „Abartige“, „Untermenschen“, „Wilde“) bis zur physischen Ausrottung.

Therapie

Die Abschirmungsstrategie der Therapie läuft darauf hinaus, Menschen mit einer als unnormalen empfundenen Lebensweise oder mit nicht normalen Wirklichkeitserfahrungen (wieder) in die normale Welt zu integrieren und dadurch die fraglose Geltung der Normalität wiederherzustellen.

Ich entschuldige mich schon einmal bei allen Therapeuten, die dies lesen. Dabei hat auch einer der ihren, Erich Fromm erkannt, dass die ja vielleicht die Kranken die Gesunden sind.

Die vielfachen Bemühungen, die in alle Gesellschaften zur Stabilisierung und Abschirmung der bestehenden Wirklichkeitskonstruktion unternommen werden, zeigen in aller Deutlichkeit, wie wichtig eine solche Wirklichkeitskonstruktion für eine Gesellschaft ist.

Aber es zeigt auch, wie gefährlich eine unzutreffendes Wirklichkeitsverständnis sein kann und was es bewirken kann. Kriege sprechen da eine klare Sprache. Doch weder mit Moral oder Werten komme ich dagegen an, sondern nur mit fundiertem Wissen. Und das bietet mir erst einmal die moderne Physik: Unbestechliches Wissen.

Nur aufpassen sollte und auch muss ich, wenn es um die darauf aufbauenden philosophischen Überlegungen geht. Da fängt es erst recht richtig an. Ich sehe das wie Jiddu Krishnamurti: „Die Welt ist genauso voller Meinungen wie von Menschen. Und Sie wissen, was eine Meinung ist. Einer sagt das, und jemand anderes sagt das. Jeder hat eine Meinung, aber Meinung ist nicht die Wahrheit. Hören Sie deshalb nicht auf eine blosse Meinung, egal wer sie sagt, sondern entdecken Sie selbst, was wahr ist. Die Meinung kann sich über Nacht ändern, aber wir können die Wahrheit nicht ändern.

Selbst entdecken, was wirklich ist. Darum geht es. Dabei kann ich selbstverständlich Wissen anderer nutzen, muss mir aber bewusst sein, dass das nur gedankliche Krücken sind und ich die auch wieder loswerden sollte, also zu lernen die Wirklichkeit eigenständig zu sehen, wie sie ist.

Zu beobachten, wie sich Hunde, Katzen oder kleine Kinder verhalten, kann dabei ausgesprochen hilfreich sein. Aber nur beobachten, nicht sich einmischen. Und vielleicht taucht dann die entscheidende Frage auf: Weshalb lebe ich nicht mit der gleichen Leichtigkeit?

Wirklichkeit ist eine Konstruktion

Und genau das zeigt Gerdes in seinem Artikel auf. Er schreibt: „Unsere gesamte Sicht der Wirklichkeit ‐ all das, was wir alltäglicher weise in ganz unbefangener Selbstverständlichkeit als objektive Wirklichkeit der Welt, der anderen Menschen und des eigenen Selbst wahrnehmen ‐, ist eine gesellschaftliche Konstruktion und nicht etwa eine Naturtatsache.

Mit anderen Worten: Unser alltägliches Wirklichkeitsverständnis ist ein bestimmtes, sozial erzeugtes und abgesichertes Bild der Wirklichkeit, das auch ganz anders aussehen könnte (und in anderen Gesellschaften faktisch anders aussieht!) und auch das, was wir für unsere eigene persönliche Identität, unser „Ich “ also, halten, ist eine soziale Konstruktion: Ein von anderen erzeugtes ‐ und von uns übernommenes ‐ Bild des eigenen Wesens. In den Bildern der Welt und des eigenen Selbst sind wir alltäglicherweise so befangen, dass wir diese sozial vorfabrizierten Bilder der Wirklichkeit für die Wirklichkeit selbst halten.“

Was ich also als „Ich“ ansehe, bin nicht wirklich ich, sondern ein von anderen und von mir übernommenes Bild von mir selbst. Aber es dauert eine ganz Weile – jedenfalls bei mir war es so – bis man sich aus dieser Haltung lösen kann. Bevor man kein Bild von sich selbst hat, kann man das alte wohl nicht loslassen, auch wenn wie auch Erich Kästner sagt, es sich ganz ungeniert lebt, ist der Ruf erst einmal ruiniert.

Doch wer sind wir, wenn wir kein Image von uns selbst (mehr) haben? Ein Niemand? Offensichtlich fällt es uns schwer, ohne zu leben. Aber vielleicht – oder wahrscheinlich – ist das das eigentliche „Problem“. Ein Problem ist aber nur solange eins, solange wir den Grund für diese Unwissenheit nicht kennen – denn das ist es, definitiv.

Dabei wird alles als Angriff gewertet, was einen selbst und die eigene Weltsicht (oder sollte ich besser sagen Illusion?) in Frage stellt, egal, ob es zutrifft oder nicht. Es gilt daher erst einmal, diese eigene Verteidigungshaltung überhaupt zu erkennen.

Dazu gehören all die Mechanismen, die zur Stabilisierung der bestehenden Wirklichkeitskonstruktion dienen und die letztlich zu ihrer Abschirmung gegen störende Einflüsse von innen und außen führen. Das fängt mit dem an, was wir in der Gesellschaft als „ganz selbstverständlich“ ansehen. Das sollte uns sofort stutzig machen. So ist es fraglos richtig, andere nicht zu verletzten – doch warum halten wir uns an solche Regeln? Oder Moral? Oder Werte? Denn das sind alles Dinge, die wir eigentlich nicht brauchen.

Wenn wir die Wirklichkeit sehen, wie sie ist, merken wir, dass es dann diese Regeln, Moral und Werte ganz einfach nicht mehr braucht. Daher sollten wir vielleicht nicht so denken, wie alle anderen Menschen denken und nicht davon ausgehen, wovon alle „ganz selbstverständlich“ ausgehen. Das fängt schon mit der Sprache an, die wir in der Regel unreflektiert und gewohnheitsmäßig anwenden, egal, ob ich mit anderen spreche oder „nur“ in Gedanken mit mir selbst.

Wirklichkeit

Mein Körper, mein Geist und mein Selbstverständnis oder GEIST (um nicht von Seele zu sprechen) sind unterschiedliche Aspekte meiner Existenz, die ich nicht getrennt betrachten darf, denn sie bedingen sich, sind untrennbar Eins, wenn auch nicht so ohne weiteres als Eines erfahr- und erlebbar.

Doch das ist der Idealzustand, den viele Menschen erst einmal nicht erleben. Vielleicht ist das so, weil der (angeblich) moderne Mensch anders als es bei indigenen Völkern der Fall zu sein scheint, sich des Ursprungs seiner selbst nicht mehr bewusst ist. Ihm fehlt eine ausgeprägte ethnisch-kulturelle Identität als Gemeinschaft mit eigenen soziopolitischen und kulturellen Traditionen.

Mit anderen Worten: Er sucht sich sozusagen selbst zu definieren. Er stolpert unter Umständen zwar über existenzielle Krisen beruflicher, körperlicher, geistiger oder emotionaler Art, merkt aber nicht, dass ihm etwas und vor allem nicht, was ihm fehlt. Jedenfalls bei mir war es so. Tiere und kleine Kinder wissen instinktiv darum, weshalb wir uns auch meist gut mit ihnen verstehen, sie regeln uns regelrecht herunter, sofern wir nicht einem illusorischen Anspruch genügen wollen und Dinge unter einen Hut bringen wollen, darunter aber keinen Platz mehr für uns selbst haben.

Oft ist es eine Krise, die uns aus der Bahn wirft, wie Nikolaus Gerdes in seinem Artikel Der Sturz aus der normalen Wirklichkeit und die Suche nach Sinn treffend beschreibt. Doch zu Beginn ist es nicht einfach, die innere emotionale Hürde zu überwinden, denn wir fühlen uns in Frage gestellt; dabei sind wir selbst es, die uns in Frage stellen. Nur wir projizieren das auf andere und sehen nicht, dass wir mit uns selbst hadern, nämlich mit unseren Ansprüchen an uns selbst.