Und genau das zeigt Gerdes in seinem Artikel auf. Er schreibt: „Unsere gesamte Sicht der Wirklichkeit ‐ all das, was wir alltäglicher weise in ganz unbefangener Selbstverständlichkeit als objektive Wirklichkeit der Welt, der anderen Menschen und des eigenen Selbst wahrnehmen ‐, ist eine gesellschaftliche Konstruktion und nicht etwa eine Naturtatsache.

Mit anderen Worten: Unser alltägliches Wirklichkeitsverständnis ist ein bestimmtes, sozial erzeugtes und abgesichertes Bild der Wirklichkeit, das auch ganz anders aussehen könnte (und in anderen Gesellschaften faktisch anders aussieht!) und auch das, was wir für unsere eigene persönliche Identität, unser „Ich “ also, halten, ist eine soziale Konstruktion: Ein von anderen erzeugtes ‐ und von uns übernommenes ‐ Bild des eigenen Wesens. In den Bildern der Welt und des eigenen Selbst sind wir alltäglicherweise so befangen, dass wir diese sozial vorfabrizierten Bilder der Wirklichkeit für die Wirklichkeit selbst halten.“

Was ich also als „Ich“ ansehe, bin nicht wirklich ich, sondern ein von anderen und von mir übernommenes Bild von mir selbst. Aber es dauert eine ganz Weile – jedenfalls bei mir war es so – bis man sich aus dieser Haltung lösen kann. Bevor man kein Bild von sich selbst hat, kann man das alte wohl nicht loslassen, auch wenn wie auch Erich Kästner sagt, es sich ganz ungeniert lebt, ist der Ruf erst einmal ruiniert.

Doch wer sind wir, wenn wir kein Image von uns selbst (mehr) haben? Ein Niemand? Offensichtlich fällt es uns schwer, ohne zu leben. Aber vielleicht – oder wahrscheinlich – ist das das eigentliche „Problem“. Ein Problem ist aber nur solange eins, solange wir den Grund für diese Unwissenheit nicht kennen – denn das ist es, definitiv.

Dabei wird alles als Angriff gewertet, was einen selbst und die eigene Weltsicht (oder sollte ich besser sagen Illusion?) in Frage stellt, egal, ob es zutrifft oder nicht. Es gilt daher erst einmal, diese eigene Verteidigungshaltung überhaupt zu erkennen.

Dazu gehören all die Mechanismen, die zur Stabilisierung der bestehenden Wirklichkeitskonstruktion dienen und die letztlich zu ihrer Abschirmung gegen störende Einflüsse von innen und außen führen. Das fängt mit dem an, was wir in der Gesellschaft als „ganz selbstverständlich“ ansehen. Das sollte uns sofort stutzig machen. So ist es fraglos richtig, andere nicht zu verletzten – doch warum halten wir uns an solche Regeln? Oder Moral? Oder Werte? Denn das sind alles Dinge, die wir eigentlich nicht brauchen.

Wenn wir die Wirklichkeit sehen, wie sie ist, merken wir, dass es dann diese Regeln, Moral und Werte ganz einfach nicht mehr braucht. Daher sollten wir vielleicht nicht so denken, wie alle anderen Menschen denken und nicht davon ausgehen, wovon alle „ganz selbstverständlich“ ausgehen. Das fängt schon mit der Sprache an, die wir in der Regel unreflektiert und gewohnheitsmäßig anwenden, egal, ob ich mit anderen spreche oder „nur“ in Gedanken mit mir selbst.